Wenn die Hoffnung schwindet
12.11.2014 11:40
Sie träumten vom Aufschwung, doch der Bürgerkrieg stürzte sie ins Elend: Ein knappes Jahr nach der Maidan-Revolution befinden sich mindestens 300.000 Ukrainer auf der Flucht. Viele, darunter Schwangere und Kinder, harren in Flüchtlingslagern aus. Der Gasstreit und der harte Winter droht die Lage zu verschärfen. Von Jens Kiffmeier. Am Ende könnte es Ärger geben. Doch das schreckt Danil nicht. Die Pfütze ist zu verführerisch. Mit einem Fuß steht der Zweijährige bereits im Wasser, doch weiter kommt er nicht. „Danil, raus da!“, brüllt ihn sein Vater an. Sergej, 45, sitzt in seinem Rollstuhl, nur ein paar Meter entfernt. Dass sein Sohn nasse Füße bekommt, ist das letzte, was er gebrauchen kann. Hier im Flüchtlingslager in Vydubychy, einem Stadtteil von Kiew, pfeift der eisige Wind um die Ecken, mehr als neun Grad Celsius zeigt das Thermometer nicht an. „Seit ein paar Tagen wird die Wäsche nicht mehr trocken“, klagt Sergej. Die nasse Wäsche ist ein Vorbote. Ein Vorbote auf den Winter, der mit zweistelligen Minusgraden in der Ukraine besonders gnadenlos sein kann. Erst recht, wenn man wie Sergej mit seiner Familie draußen leben muss. „Wir fürchten uns vor der Kälte“, sagt der 45-Jährige, der seine Beine bei einem Autounfall verloren hat und bis vor kurzem noch in Slawjansk lebte – eben jener Region, in der sich derzeit die ukrainische Armee mit prorussischen Separatisten einen Bürgerkrieg liefert. Als eines Tages Maskierte mit Maschinengewehren bei ihm im Viertel auftauchten, ließ sich Sergej von seiner Mutter zur Flucht überreden. Am Vortag waren im Nachbardorf bereits 19 Bewohner umgebracht worden. Sergej verschwand mit seinem Sohn und seiner schwangeren Frau nach Kiew, die Großmutter blieb allein zurück. „Sie klammert sich an das Haus“, sagt Sergej. Nach Angaben der europäischen Flüchtlingshilfsorganisation ECHO sind wegen der Kämpfe derzeit 300 000 Ukrainer innerhalb des Landes auf der Flucht, entweder nach Russland oder in die Westukraine. 7,5 Millionen Euro Soforthilfe hat die EU bereitgestellt. Das Geld wird dringend benötigt: „Die meisten sind unterwegs und haben nichts, kein Geld, keine Kleidung oder eine Adresse, wo sie bleiben können“, sagt ECHO-Delegationsleiter Mamar Merzouk. Seiner Einschätzung nach könnte die Zahl der Vertriebenen sogar um 40 Prozent höher liegen, denn viele lassen sich nicht registrieren. Wer keinen Unterschlupf bei Bekannten findet, wird notdürftig in Flüchtlingslagern untergebracht. Männer, Frauen, Schwangere, Kinder, aber vielleicht auch Kriminelle oder Drogenabhängige, wer weiß das schon so genau. Das Lager in Vydubychy ist auf dem Gelände einer Industrieruine untergebracht. Betrieben wird es von einer protestantischen Freikirche. Zwischen den Mauern eines verfallenen Stahlwerks hat die Organisation eine fensterlose Wellblechhütte aufgebaut. Darin wohnen 50 bis 150 Menschen in Holzverschlägen, sie bieten Platz für zwei Etagenbetten. Ein Vorhang ist der einzige Schutz der Privatsphäre. In der Halle ist es stickig. Beheizt wird sie mit einem alten Brennofensystem. Schwarzer Qualm zieht hinter der Halle in die Luft und sorgt für beißenden Gestank. Bei Vostok SOS sieht man das Lager skeptisch. Die Nichtregierungsorganisation liegt versteckt in einem Hinterhofhaus in Kiews Stadtzentrum. „Wir wollen keine großen Flüchtlingscamps“, sagt Natalie Udovemko, 29. Eigentlich ist sie Innenarchitektin, aber seit der Maidan-Revolution arbeitet sie als Freiwillige bei dem Hilfsverein, der – unterstützt durch EU-Mittel – Vertriebenen bei der Wohnungssuche hilft. Das Prinzip: Über eine Telefon-Hotline sammeln die Mitarbeiter Wohnungsangebote, speichern sie in einer Datenbank und vermitteln sie an die Zuflucht Suchenden. 11.000 Anrufe wurden in vier Monaten registriert. Auch aus den umkämpften Gebieten im Osten. Manchmal, wenn Natalie Udovemko den Hörer abnimmt, hört sie im Hintergrund Bombengeräusche. „Die meisten wollen wissen, wie sie da herauskommen und wo sie hin können.“ Immerhin 400 bis 500 Wohnungen haben die Helfer von Vostok SOS für Kiew in ihrer Datenbank. Doch bei geschätzten 80.000 Binnenflüchtlingen, die sich allein in der ukrainischen Hauptstadt aufhalten sollen, reicht dieses Angebot bei weitem nicht aus. Die Zeit drängt. Auch für Sergej. Im November erwartet seine Frau das zweite Kind. Ob sie dann raus sind aus dem Flüchtlingslager, weiß Sergej nicht. Es sei schwierig, eine Wohnung zu finden. „Sie sind kaputt oder teuer.“ Denn auch das ist eine Folge der Flüchtlingskatastrophe: Mit steigender Einwohnerzahl steigen auch die Mieten. Für Sergej, der seit seinem Unfall arbeitsunfähig ist und eine kleine Rente bezieht, ist das meiste nicht mehr zu finanzieren. Trotzdem will er die Hoffnung nicht aufgeben. Er lebt jetzt eine halbe Autostunde vom Maidan entfernt, jenem Unabhängigkeitsplatz, auf dem die Ukrainer vor einem Jahr für Demokratie und Freiheit auf die Straße gingen. „Damals“, sagt Sergej, „spürte man eine Aufbruchstimmung“. Es sei zwar immer schwieriger, dieses Gefühl aufrechtzuerhalten. „Aber ich will weiter daran glauben, dass abgesehen vom Geld in diesem Land auch noch andere Werte zählen.“ (Veröffentlicht am 21.10.2014 in den Kieler Nachrichten) Kommentare |